*
Merton
Hochwasser im Herbst
Hochwasser. Tausende von wilden Sturzbächen ergossen sich in den Gelben Fluß. Der stieg über seine Ufer und war am Ende so breit, daß man am gegenüberliegenden Ufer ein Pferd nicht mehr von einem Ochsen unterscheiden konnte. Da lachte der Flußgott. Er war entzückt, daß die ganze Schönheit dieser Welt in seine Hand gegeben war. So warf er sich flußabwärts und erreichte bald das Meer. Er blickte über die Wellen hinüber zu dem leeren Horizont im Osten und war mit einem Mal recht kleinlaut. Er war zur Besinnung gekommen und murmelte dem Meergott ins Ohr: „Das Sprichwort ist wahr: Wer hundert Ideen hat, der glaubt, er wüßte mehr als irgendeiner in der Welt. So einer bin ich auch. Erst jetzt begreife ich, was das bedeutet: WEITE!“
Der Gott des Meeres erwiderte:
„Kann man einem Frosch im Brunnen
vom Ozean sprechen?
Kann man Libellen
von Eis erzählen?
Kann man einem Doktor der Philosophie
vom rechten Leben reden?
Von allen Wassern dieser Welt
ist der Ozean das größte
Tag und Nacht
gehen die Flüsse in ihm auf.
Der Ozean läuft niemals über.
Tag und Nacht gibt er
das empfangene Wasser
wieder zurück.
Er wird niemals leer.
In Trockenzeiten
Sinkt sein Spiegel nicht,
und er steigt nicht in der Regenzeit.
Er ist größer als alle anderen Gewässer!
Zu sagen, um wieviel gewaltiger er ist –
dazu fehlt uns jedes Maß.
Aber bin ich deshalb stolz?
Was bin ich denn unter dem Himmel?
Was wäre ich ohne Yang und Yin?
Verglichen mit dem Himmel
bin ich ein kleiner Fels,
eine Krüppeleiche
am Bergeshang.
Wieso sollte ich also tun,
als wäre ich etwas?“
Der Mensch ist nur eines unter Millionen anderer Lebewesen. Von all den Millionen Menschen, die auf der Erde leben, sind die Bauern nur ein kleiner Teil, und noch kleiner ist die Anzahl derer, die ein Amt bekleiden oder Geld besitzen, im Boot oder im Wagen reisen können. Und ein Mann in seinem Wagen ist nicht mehr als die Spitze eines Pferdehaars. Warum also soviel Aufhebens von großen Menschen und großen Würden? Warum der ewige Gelehrtenzank? Warum die Eifersüchteleien der Politiker?
Es gibt keine festen Grenzen,
und die Zeit steht niemals still.
Nichts ist ewig
und nichts endgültig.
Wir haben keine Gewalt
über Anfang und Ende.
Dem Weisen ist das Nahe
und das Ferne gleich.
Er verachtet nicht das Kleine,
und das Große himmelt er nicht an.
Wie könnte man Vergleiche ziehen,
wenn es keinen Maßstab gibt?
Mit seinem Blick erfaßt der Weise
Vergangenheit und Gegenwart in einem.
Er sehnt sich nicht zurück
und blickt gelassen in die Zukunft.
Alles ist in fließender Bewegung.
Der Weise erfährt die Fülle
und die Leere und nimmt beides an.
Er frohlockt nicht über einen Sieg
und klagt nicht, wenn er scheitert.
Das Spiel ist noch nicht aus,
Geburt und Tod steh´n immerfort in´s Haus,
noch ist nichts entschieden.
*
Merton
Aktivitäten
Wenn ein Fachmann kein Problem hat, das ihn beschäftigt, dann ist er unglücklich.
Wenn ein Philosoph keinen Widerspruch findet, vergeht er vor Gram.
Wenn Kritiker keinen Menschen haben, den sie bespötteln können, sind sie todtraurig.
Sie sind Gefangene dessen, was sie Tatsachen nennen.
Wer Anhänger sucht, strebt nach politischer Macht.
Wer Anerkennung sucht, drängt sich in ein Amt.
Der Muskelprotz hält nach Gewichten Ausschau, die er heben möchte.
Der Tapfere wartet auf den Notfall, in welchem er seinen Mut beweisen kann.
Der Soldat sucht die Schlacht, in welcher er sein Schwert schwingen kann.
Ältere Menschen schweigen, um tief zu scheinen.
Rechtsgelehrte suchen schwierige Fälle, um die Herrschaft der Gesetze auszudehnen.
Liturgen und Musiker lieben Feste, bei denen sie ihre Talente zeigen können.
Der Mildtätige und der Pflichtgetreue sind stets auf der Suche nach
Gelegenheiten, ihre Tugend zur Schau zu stellen.
Was wäre der Gärtner, wenn es kein Unkraut mehr gäbe?
Was würde aus den Geschäften ohne einen Markt voller Narren?
Wo blieben die Massen, wenn sie keinen Vorwand mehr hätten, sich
zusammenzudrängen und Lärm zu schlagen?
Was würde aus der Arbeit werden, wenn nichts Überflüssiges mehr
hergestellt werden dürfte?
Bring etwas hervor! Zeige Ergebnisse vor! Verdiene Geld! Gewinne dir
Freunde! Sorge für Abwechslung! Sonst stirbst du vor Verzweiflung!
Die in der Maschinerie der Macht verfangen sind, haben nur noch am Tun und
am Wechsel Freude. Das Surren der Maschine ist ihre Musik. Wann immer sie
etwas unternehmen können, werfen sie sich ins Zeug. Sie können nicht
dagegen an. Unbarmherzig werden sie um und um getrieben wie die Maschine,
deren Teil sie sind. Gefangen von Menschen und Dingen, haben sie keine
andere Wahl, als sich den Ansprüchen des Draußen zu beugen. Sie werden von
all dem zerrieben, was von außen auf sie eindringt: von Mode, Markt,
Ereignissen, von der öffentlichen Meinung. In ihrem ganzen Leben bekommen
sie das, was in ihnen ist und nur ihnen gehört, nicht in den Blick. Sie
sind aktive Menschen! Es ist ein Jammer.
*
Merton
Diebstahl zum Wohle des Volkes
Um sicher zu sein vor denen, die Geldbörsen stehlen, Koffer rauben und Geldschränke aufbrechen, muß man all sein Hab und Gut mit Stricken, Schlössern, Riegeln wohl versehen.
Wer etwas besitzt, der muß sich schützen. Das ist nur natürlich. Aber kommt einmal ein starker und geschickter Dieb und packt gleich alles auf seine Riesenschulter, dann hat er nur eine Sorge: Hoffentlich halten Stricke, Schlösser, Riegel oben auf meinem Rücken.
So ist das, was alle Welt ein „gutes Geschäft“ nennt, nichts weiter als dies: Du nimmst deine Beute, verschnürst, verriegelst sie, damit ein kühner Dieb sie mühelos entführen kann. Wer unter den sogenannten Klugen hätte je etwas anderes getan, als Beute aufzustapeln für einen Dieb, der noch gerissener ist als unser Neunmalkluger?
In Khi liegt Dorf an Dorf. Hähnekrähen, Hundebellen. Fischer werfen ihre Netze aus, Bauern pflügen ihre weiten Äcker, und die Grenzlinien zwischen den einzelnen Höfen waren säuberlich gezogen. Über fünfhundert Quadratmeilen wahren Ahnentempel und Altäre für Feldgeister und Korngeister verstreut.
In jeder Gemeinde, in jedem Kreis, in jeder Provinz wurden die Gesetze peinlich genau befolgt – bis eines Morgens der Justizminister, Tien Khang=tse, den König absetzte und die Macht im ganzen Staate übernahm. Er begnügte sich nicht mit dem Land der Bauern, er übernahm auch die Gesetze, die Rechtsanwälte und die Polizei. Er nahm alles.
Natürlich wurde Khang=tse ein Dieb genannt, aber das machte ihm nichts aus, solange ihn das Volk in Ruhe herrschen ließ. Die kleinen Staaten ließen ihn gewähren, und auch die großen respektierten ihn. So blieb Khi zwölf Generationen lang im Besitz der Familie des Khang=tse. Niemand machte der mächtigen Familie das Recht auf Khi je streitig.
Die Erfindung der Maße und Gewichte
macht den Diebstahl leichter.
Verträge und Siegel
machen das Rauben sicherer.
Ermahnungen zu Liebe
und Pflichterfüllung
sind das Vokabular,
mit denen man leicht beweisen kann,
daß Diebstahl genaugesehen
dem Wohle des Volkes dient.
Einen Armen hängt man auf,
wenn er ein Riemenschloß gestohlen hat.
Wenn aber ein Reicher ein ganzes Land zu seinem Eigentum erklärt,
feiert man ihn als den Staatsmann des Jahres.
Wenn du also die besten Reden
über Liebe, Pflicht, Gerechtigkeit und ähnliches hören willst,
lausche Politikern!
Aber wenn der Fluß austrocknet,
wächst im Tal nichts mehr.
Wenn ein Damm eingeebnet ist,
dann ist die Mulde nebenan gefüllt.
Und wenn die Politiker und Rechtsanwälte
und die, welche von Pflichten reden,
nicht mehr da sind, dann hört der Diebstahl auf,
und die Welt hat endlich Frieden.
Die Moral: Je mehr sittliche Grundsätze und
Pflichten verkündet werden, um einen jeden
auf die allgemeine Linie einzuschwören,
um so größer ist die Beute für Diebe vom Schlage Khangs.
Mit sittlichen Argumenten und Moralprinzipien
werden die größten Verbrechen
als notwendig für das Wohlergehen aller hingestellt.
*
Gibran
Der Irre
Im Garten eines Irrenhauses traf ich einen jungen Mann mit einem blassen Gesicht, jedoch hübsch und geheimnisvoll anzusehen.
Ich setzte mich zu ihm auf die Bank und fragte: „Weshalb bist du hier?“ Erstaunt blickte er mich an und sprach:
„Das ist eine unziemliche Frage, doch will ich dir antworten. Mein Vater wollte aus mir ein Spiegelbild seiner selbst machen, und auch mein Onkel wollte dies. Meine Mutter meinte, ich müsse ihrem berühmten Vater gleichen. Meine Schwester wünscht, daß ich dem Beispiel ihres zur See fahrenden Mannes folgen solle, und mein Bruder rät mir, so wie er ein großer Athlet zu werden.
Und auch meine Lehrer, der Professor der Philosophie, der Musiker und der Logiker, sie waren ebenso fest entschlossen, ein Abbild ihrer selbst aus mir zu machen.
Deshalb kam ich hierher, dieser Ort ist gesünder für mich. Wenigstens hier kann ich ich selbst sein.“
Plötzlich wandte er sich um und fragte:
„Doch sage mir, mußtest du auch aufgrund deiner Erziehung und wegen solch gut gemeinter Absichten hierherkommen?“
„Nein, ich bin ein Besucher“, antwortete ich.
„Aha“ meinte er, „dann bist du einer von denen, die im Irrenhaus auf der anderen Seite der Mauer wohnen.“
*
Gibran
Gesetze und Gesetzgebung
Vor langer Zeit lebte ein großer König, der sehr weise war. Eines Tages beschloß er, für seine Untertanen Gesetze zu erlassen.
Und er rief tausend weise Männer von tausend verschiedenen Stämmen zu sich in die Hauptstadt, um die Gesetze festzulegen.
Und so geschah es.
Als die tausend Gesetze auf Pergament geschrieben standen und vor dem König lagen und er sie gelesen hatte, da war er sehr betroffen, denn er hatte nicht gewußt, daß es tausend Arten von Verbrechen in seinem Königreich gab.
Er rief seinen Schreiber zu sich, und mit einem Lächeln auf den Lippen diktierte er selbst neue Gesetze. Und es waren nur noch sieben. Die tausend Weisen aber waren verärgert und kehrten mit den Gesetzen, die sie niedergeschrieben hatten, zu ihren Stämmen zurück. Und ein jeder Stamm befolgte die Gesetze der weisen Männer.
Deshalb haben sie tausend Gesetze; bis auf den heutigen Tag.
Es ist ein großes Land, und es hat tausend Gefängnisse; diese sind voll von Männern und Frauen, welche die tausend Gesetze gebrochen haben.
Es ist wirklich ein großes Land, doch die Menschen, die dort leben, sind die Nachkommen von tausend Gesetzgebern und nur einem weisen König.
*
Der Pulsschlag ist das typische Merkmal für dieses Leben.
Was die Menschen zu Fall bringt, das erhebt sie auch wieder.
Erlösung gewinnen ist leichter als Unsterblichkeit.
Der Geist zeigt sich dreifaltig als Trinität manifestierter Kraft durch seine Offenbarung. Schöpfung ist Wille, Erkenntnis, Weisheit und Tat.
Der Geist ist sowohl Erkenner, wie auch Erkanntes, Enthüller wie auch Enthülltes, Bezeichner wie Bezeichnetes.
*
Gautama Buddha
Wer Augen hat, wird die Dinge sehn.
Anhaften ist des Leidens Wurzel.
Je mehr sie mehr vermeinen, immer wandelbarer wird es.
Was irgend auch entstanden ist, muß alles wieder untergehn.
Kein Ding ist der Mühe wert.
Das matte Herz ist fern von der Selbstvertiefung.
Der gleichmütig Einsichtige lebt beglückt.
Im Erlösten ist die Erlösung.
Das Werk scheidet die Wesen ab,
nach Verkommenheit und Vorzüglichkeit.
Es gibt ein Wirken, das unmöglich ist und unmöglich erscheint;
gibt ein Wirken, das unmöglich ist und möglich erscheint;
gibt ein Wirken, das möglich ist und auch möglich erscheint;
gibt ein Wirken, das möglich ist und unmöglich erscheint.
Die Schritte des Kämpfers:
Der Krieger ist der höchste Herr
von Allen, die von Adel sind
der wissend, wandelnd ist bewährt
ist höchster Herr bei Gott und Mensch.
*