Die Summe der grundlegenden Lehren des Bardo Thödol
Bevor wir zu den letzten Abschnitten dieser Einleitung übergehen, die das Manuskript selbst betreffen, können wir nun die Hauptlehren, auf der der ganze Bardo Thödol sich gründet, folgendermaßen zusammenfassen:
1). daß alle möglichen Umstände oder Zustände oder Bereiche samsarischer Existenz, Himmel, Höllen und Welten, durchaus von Erscheinungen abhängen oder, in anderen Worten, nichts als Erscheinungen sind;
2). daß alle Erscheinungen vergänglich sind, eingebildet, unreal und nicht existierend außer in dem samsarischen Gemüt, das sie wahrnimmt;
3). daß es in Wirklichkeit nirgendwo solche Wesen wie Götter oder Dämonen oder Geister oder empfindende Geschöpfe gibt – da sie alle gleicherweise Erscheinungen sind, die von einer Ursache abhängen;
4). daß diese Ursache ein Sehnen und Dürsten nach Empfindung, nach der wandelbaren samsarischen Existenz ist;
5). daß, solange diese Ursache nicht durch Erleuchtung überwunden wird, Tod der Geburt und Geburt dem Tod folgt, unaufhörlich – wie auch der weise Sokrates glaubte;
6). daß die Nachtod-Existenz nur eine Fortsetzung unter veränderten Bedingungen der aus Erscheinungen geborenen Menschenwelt ist – denn beide Zustände sind gleichermaßen karmisch;
7). daß die Art des Zwischendaseins zwischen Tod und Wiedergeburt in dieser oder irgendeiner Welt von vorhergehenden Handlungen abhängt;
8). daß es, psychologisch gesprochen, ein verlängerter Traumzustand in dem ist, was wir die vierte Dimension nennen können, angefüllt mit eingebildeten Visionen, die direkt aus dem geistigen Gehalt des Wahrnehmenden resultieren, glücklich und himmlisch, wenn das Karma gut ist, elend und höllisch, wenn das Karma schlecht ist;
9). daß, wenn nicht Erleuchtung gewonnen wird, Wiedergeburt in der Menschenwelt, unmittelbar aus der Bardo-Welt oder aus irgendeiner anderen Welt oder aus irgendeinem Paradies oder Höllenort, wohin das Karma geführt hat, unvermeidlich ist;
10). daß Erleuchtung auf der Erkenntnis der Unwirklichkeit des Samsara, der Existenz beruht;
11). daß eine solche Erkenntnis in der Menschenwelt möglich ist oder in dem wichtigen Augenblick des Todes in der Menschenwelt, oder während des ganzen Nachtod-oder Bardo-Zustandes, oder auch in gewissen nichtmenschlichen Bereichen;
12). daß Übung im Yoga wesentlich ist, d.h. die Kontrolle über den Denkprozeß, um fähig zu werden, den Geist zu konzentrieren im Bemühen, rechtes Wissen zu erlangen;
13). daß solche Übung am besten unter Anleitung eines menschlichen Guru oder Lehrers stattfindet;
14). daß der größte Guru, der der Menschheit in diesem Zeitalter bekannt ist, der Gautama Buddha ist;
15). daß seine Lehre nicht einzigartig oder einmalig, sondern die gleiche Lehre ist, die seit undenklicher Zeit durch eine lange und erlauchte Dynastie von Buddhas, die des Gautama Vorgänger waren, in der Menschenwelt verkündet worden ist zur Erlangung der Erlösung, zur Befreiung aus dem Kreis von Wiedergeburt und Tod, zur Überquerung des Ozeans des Samsara zur Verwirklichung des Nirvana;
16). daß die weniger geistig erleuchteten Wesen, die Bodhisattvas und Gurus in dieser Welt oder in anderen Welten, obwohl sie noch nicht aus dem Netz der Illusion befreit sind, doch göttliche Gnade und Kraft dem Sisya (d.i. Cela oder Schüler) gewähren können, der noch weniger weit fortgeschritten ist auf dem Wege als sie selbst;
17). daß das Ziel ist und nur sein kann: Befreiung aus dem Samsara;
18). daß solche Befreiung durch Verwirklichung des Nirvana geschieht;
19). daß Nirvana als jenseits aller Paradiese, Himmel, Höllen und Welten nicht samsarisch ist;
20). daß es das Ende allen Kummers ist;
21). daß es Wirklichkeit ist;
22). Er, der Nirvana erreicht und verwirklicht hat, Gautama Buddha selbst, hat zu seinen Jüngern so davon gesprochen: „Es gibt, ihr Mönche, einen Bereich, in dem ist weder Erde noch Wasser, weder Feuer noch Luft, weder das Raumunendlichkeitsgebiet noch das Bewußtseinsunendlichkeitsgebiet, weder das Gebiet der Nichtheit noch das der Weder-Wahrnehmung-noch- Nichtwahrnehmung, weder diese Welt noch jene Welt, weder Sonne noch Mond. Dies, ihr Mönche, nenne ich weder Kommen noch Gehen, noch auch Stillstand, weder Tod noch Geburt; es ist ohne Grundlage, Fortschritt oder Stütze; es ist das Ende allen Kummers. Denn alles, was einem anderen Ding anhängt, kommt zu Fall, aber zu dem, was nicht anhängt, kann kein Fall kommen. Wo kein Fall kommt, da ist Ruhe, und wo Ruhe ist, da ist kein heftiges Begehren. Wo kein heftiges Begehren ist, da kommt nichts und geht nichts; und wo nichts kommt und nichts geht, da ist kein Tod, keine Geburt. Wo weder Tod noch Geburt ist, da ist weder diese noch jene Welt, noch etwas dazwischen – es ist das Ende allen Kummers. Es gibt ihr Mönche, ein Ungewordenes, Ungeborenes, Ungemachtes, Ungeformtes; wenn es dieses Ungewordene, Ungeborene, Ungemachte, Ungeformte nicht gäbe, so würde es keinen Ausweg geben aus dem, was geworden, geboren, gemacht, geformt ist; aber weil es ein Ungewordenes, Ungeborenes, Ungemachtes, Ungeformtes gibt, darum gibt es auch ein Entrinnen aus dem, was geworden, geboren, gemacht und geformt ist.“
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